Jonas Lähnemann
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Rundbrief oder auch 2. Projektbericht aus Israel


Jerusalem, 16. April 2002

Liebe Förderer, Freunde, Verwandte, Bekannte,

dieser Brief fängt wie immer mit einer Rechtfertigung für eine lange Sendepause an. Mein zweiter Projektbericht für ASF ist längst überfällig und auch nach meinem Weihnachtsrundbrief ist es langsam Zeit sich wieder mal zu melden.
Die letzten Monate waren unter anderem durch Besuche meiner Familie gekennzeichnet. Außerdem ist längst die anfängliche Aufregung einem normalen Alltag in Jerusalem gewichen. Gerade auch durch inzwischen bessere Hebräischkenntnisse.

v Vorneweg: Ich will versuchen in Zukunft öfters mal spontan Gedanken oder Erlebnisse aufzuschreiben, da ich feststelle, dass man dies nicht alles in einen solchen Bericht packen kann. Wer diese Berichte gerne gemailt haben möchte, möge sich doch bitte bei mir melden.

Wie auch in den letzten Rundbriefen werde ich als erstes über Ilanot schreiben. Die Arbeit in der Schule macht mir weiterhin viel Spaß. Aufregung und teilweise Unsicherheit der Anfangszeit liegen weit zurück - diese Zeit war sehr interessant und ich habe viel gelernt, doch die Routine, die ich inzwischen habe, tut gut. Ich meine jetzt Routine nicht im negativen Sinne, sondern ich kenne die Aufgaben genauer, bin mir sicher, dass ich sie gut mache, kann mich immer besser mit den Schülern verständigen, weiß auf deren individuelle Bedürfnisse einzugehen und bekomme Anerkennung für mein Engagement. Im Gegensatz zum letzten Schuljahr bin ich dieses Jahr größtenteils einer Klasse von vier Jungs zugeteilt. Dies ergibt eine engere Beziehung mit diesen Schülern, doch auch mit einigen anderen Schülern verstehe ich mich sehr gut. Während von den Schülern meiner Klasse nur einer sprechen kann, kann ich mich mit einigen der älteren Schüler sehr nett unterhalten und scherzen. Inzwischen habe ich freitags die Hauptverantwortung für die Klasse, da sowohl die Lehrerin, als auch die zweite Mitarbeiterin der Klasse ihren freien Tag haben. Ebenso habe ich an anderen Tagen viele eigenständige Aufgaben. So bin ich öfters mit einzelnen Schülern in Kunstworkshops (Holzbearbeitung, Keramik, Ölmalen). Dazu kommen weiterhin die Grundaufgaben im Pflegebereich: Wickeln, aufs Klo bringen, Essen austeilen, füttern und für's Baden umziehen.
Mit Moschiko übe ich seit einiger Zeit einmal die Woche Duschen. Er hat dabei einerseits körperliche Einschränkungen und muß andererseits immer kräftig motiviert werden. Wenn ich mit ihm montags zum Holzworkshop gehe, bin ich für die drei bis vier mit Schleifen beschäftigten Schüler zuständig. Den meisten muß ich sehr wenig helfen, doch Moschiko träumt meist, während er den Schwingschleifer auf dem Holz hält.
Michael helfe ich jeden Freitag beim Ölmalen. Ich darf ihn nur beim Halten des Pinsels unterstützen, Bewegungen sollen von ihm ausgehen. Vor wenigen Wochen hat er es das erste Mal geschaff, für ein paar Sekunden ohne jegliche Unterstützung den Pinsel zu halten und zu bewegen - die Kunstlehrerin sagt, darauf arbeite sie seit fast 7 Jahren hin. Ich merke auch immer wieder, wie sehr es Michael freut, wenn ich ihn zu dieser Unterrichtsstunde bringe und wir mit Malen anfangen.
Adiel, ein Autist im Rollstuhl, hat vor kurzem auch mit Malen angefangen. Jedoch mit Fingermalfarben, die er voller Begeisterung auf dem Blatt und dem Tisch verteilt. Wenn man ihm Vorlagen gibt, ignoriert er diese vollständig und bleibt bei seinem ungegenständlichen Stil. Teilweise ist er richtig vertieft in das Malen und lässt sich nicht so schnell ablenken.
Als ich im neuen Jahr vom Ägyptenurlaub zurückkam, wurde ich durch eine kurze Weihnachtsfeier der gesamten Schule überrascht, bei der ein Weihnachtsmann mir ein Geschenk überreichte und den Schülern knapp erklärt wurde, dass ich als Christ andere Feiertage habe als die Juden und deshalb gerade im Urlaub gewesen war. Eine rührende Wertschätzung meiner Arbeit.
Ein Höhepunkt der Arbeit waren wieder 2 Ausflüge im März. Über Purim - jüdischer Fasching - eine Zwei-Tagestour mit Peto nach Masada, bei der ich sowohl die Schüler als auch die Mitarbeiter des letztjährigen Sommercamps wiedertraf, was schon allein sehr schön war. Noch vor Sonnenaufgang sind wir mit den Schülern per Seilbahn auf den Berg gefahren.
Nur eine Woche später war der diesjährige Jahresausflug. Nach Eilat. Zu meinem Glück war es aufgrund des Mangels an männlichen Mitarbeitern keine Frage, dass ich mitfahren würde. Dabei fuhren nur die zwei Klassen der ältesten und selbstständigsten Schüler, zu denen meine Klasse nicht gehört. Sowohl mit Mitarbeitern, als auch mit Schülern habe ich mich bestens verstanden und Spaß gehabt, was die Anstrengungen dieser Tage - ich war für einen der schwierigsten Schüler verantwortlich (mit dem ich mich aber super verstehe) - überwog. Hinzu kam, dass wir günstig in behindertengerechten Suiten eines fünf Sterne Hotels untergebracht waren und ich kostenlos in das Aquarium von Eilat kam.

Weiterhin arbeite ich aber nicht nur in der Schule, sondern führe auch meine Altenarbeit fort. Diese Aufteilung der Projekte, wie sie ASF hier in Israel praktiziert, finde ich sehr sinnvoll, da sie zur Abwechslung im Arbeitsalltag und zum Erlangen vielfältigerer Erfahrungen beiträgt. Sie ermöglicht den meisten von uns hier, mit Shoah-Überlebenden in Kontakt zu kommen, sie näher kennenzulernen und ihnen zu helfen.
Schmuel ist Ende Dezember in ein Altersheim gezogen, wo ich ihn weiterhin besuche. Die Formalien sind immer noch nicht vollständig geklärt, doch nachdem er aus seiner Wohnung im dritten Stock kaum noch das Haus verließ, ist dies eine positive Entscheidung. Er geht fast täglich ein wenig spazieren und die wichtigsten Läden liegen direkt gegenüber dem Altersheim. Dies tut ihm sicher gut, auch wenn ihn die Beine weiter plagen. Hoffentlich wird er dort bleiben können und auch Kontakte mit anderen Bewohnern knüpfen.
Mit Edmund gehe ich weiter regelmäßig einkaufen und meine besseren Hebräischkenntnisse ermöglichen uns immer weitergehende Diskussionen.
Nachdem Hanna im Oktober gestorben ist und Esti vom Beit Rachel keine weitere Altenarbeit für mich finden konnte habe ich im Januar direkt über ASF angefangen, Yehuda zu besuchen. Er wohnt direkt neben der Pax und ist eine ganz liebe Persönlichkeit - im Oktober wird er 90. Aus Prag stammend hat er eine unglaubliche Überlebensgeschichte. Schon sehr früh kam er nach Theresienstadt, wo er sich als Koch meldete - was er später als Beruf wählte - und sich so gut halten konnte und gegen Essen andere Dinge für seine Familie eintauschen konnte. Versteckt zog er seinen in Theresienstadt geborenen Neffen groß, der später mit seiner Mutter in den Gaskammern von Birkenau umkam. Yehuda kam zeitweise auf die kleine Festung, wo er gefoltert wurde - nur wenige außer ihm haben dies überlebt. Später war er noch im Auschwitzer Nebenlager Monowitz - behauptete abwechselnd er sei Schuhmacher, Schneider und Maler - und in Dora. Nach der Befreiung ging er wieder nach Prag und entschied sich 1949 nach Israel zu emigrieren. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er als Koch für die israelische Armee (in späteren Jahren für Generäle und Staatsbesuche). Inzwischen hat er ein Zimmer in einem kleinen Altersheim, macht sich sein Essen jedoch noch selber - er schwört auf seine Mikrowelle. Für sein Alter ist er noch unglaublich fit und wohl kaum ein Altersgenosse geht täglich schwimmen und in die Sauna. Wenn ich ihn besuche, gehen wir meist gemeinsam zum Supermarkt und essen danach gemeinsam. Wenn die Zeit noch ausreicht oder er gerade nicht einkaufen muß, spielen wir öfters auch gemeinsam Schach, wo ich von ihm schon viel gelernt, trotzdem aber noch nie gewonnen habe.

Mein Leben hier in Jerusalem beschränkt sich natürlich nicht nur auf die Arbeit. Es gibt in Jerusalem unzählige interessante Veranstaltungen: z.B. von diversen Institutionen organisierte Diskussionen zur politischen Lage und anderen Themen. Besonders hervorzuheben ist vielleicht ein Konzert von Wolf Biermann im Dezember. Im Oktober organisierten wir das 40jaehrige Jubiläum der ASF-Arbeit in Israel (die von mir gestaltete Jubiläumsbroschüre findet ihr im Internet unter http://www.asf-ev.de/il/jubilaeum), zu dem auch Vertreter aus Berlin kamen.
Erst vor kurzem, nach Ostern, hatten wir ein dreitägiges Seminar bei dem wir uns mit Archäologie beschäftigten. Ein israelischer und ein deutscher Professor, sowie ein Palästinenser haben uns Vorträge gehalten und teilweise auch direkt vor Ort im Bereich der Altstadt anhand der Ausgrabungen die Geschichte Jerusalems erklärt. Solche fundierten Informationen lassen in den toten Steinen Sinn erkennen und bieten einen weitaus tieferen Einblick als ihn normale Touristenführer geben können. Es tat auch sehr gut, sich einmal mit anderen Themen als der Shoah und dem Nahostkonflikt zu beschäftigen.
Aufgrund der Überschneidung waren wir am Ende des Seminars in Yad Vashem beim offiziellen Staatsakt anläßlich des Shoah-Gedenktages. So gerechtfertigt eine solche Veranstaltung ist, gibt es meiner Ansicht nach passendere Realisierungen als diesen durchorganisierten pompösen Staatsakt, bei dem andauernd eine Paradeeinheit der Armee salutierte und Präsident sowie Ministerpräsident nichtssagende Reden hielten. Die Schweigeminute am folgenden Tag, bei der sämtlicher Verkehr zum Aufheulen der Sirenen für 2 Minuten stillsteht, hat mich weitaus mehr beeindruckt.
Weiterhin bin ich im Land herumgereist, in den Norden, nach Eilat, ans Tote Meer - wie schon so oft - und war auch einen Tag in Jericho - hoffentlich wird dies während meiner verbleibenden Zeit nochmals möglich sein. Sonst habe ich besonders im Frühling diverse Wanderungen und Spaziergänge mit verschiedenen Personen in der Umgebung unserer Wohnung in En Karem gemacht. Gerade im Moment, wo noch alles grünt und blüht, ist dies einfach schön. Doch die Mandelbluete ist bereits seit einigen Wochen vorüber und auch das meiste Grün wird sich im Laufe der nächsten 2 Monate in Braun verwandeln.
Über Weihnachten war David (mein Bruder, Anmerkung der Redaktion) hier und hat damit eine Zeit der Familienbesuche eingeläutet. Gemeinsam waren wir zu Weihnachten in der Jerusalemer Altstadt und in Bethlehem und sind direkt danach für zwei Wochen nach Ägypten gefahren. Nachdem wir uns so lange nicht gesehen hatten war es ein sehr schöner gemeinsamer Urlaub, bei dem wir versucht haben, nicht nur die größten Touristenzentren zu sehen. Besonders 4 Tage in den Oasen der Libyschen Wüste haben wir genossen.
Kurz darauf kam mein Vater für eine Woche nach Israel. Von der Überraschung hatte ich bereits etwas geahnt, nachdem ein Kollege meines Vaters etwas erzählt hatte. Zu Ostern kam dann noch meine Mutter und brachte auch David nochmals mit - da er im Sommer für ein Jahr in die USA geht und ich noch nicht genau weiß, wann und wie ich nach Deutschland reise, ist auch noch nicht klar, wann wir uns wiedersehen werden. Wir waren für drei Tage mit einem Mietauto im Norden, vor allem am See Genezareth. Jetzt konnte ich den Reiseführer spielen und es genießen, einmal nicht per Tramp oder Bus in diesem Land unterwegs zu sein.
Inzwischen ist auch der Umzug in Deutschland vorüber, so dass ich nach der Rückkehr zu einem Haus fahre, das ich nur in unrenoviertem Zustand kenne.

Im Laufe der letzten Monate bin ich mehrfach bei Solidaritaetsbesuchen der Friedensbewegung zu Beduinen in den noerdlichen Negev oder die suedliche Westbank mitgefahren. Waehrend die Beduinen im Negev israelische Staatsbuerger sind und sogar in der Armee dienen, werden viele ihrer Doerfer nicht anerkannt und bekommen deshalb keine Infrastruktur und teilweise werden auch die Haeuser von der Polizei abgerissen. Erst kuerzlich hat die Regierung sogar die Felder einiger Beduinen mit Gift besprueht und so die Ernte zerstoert, da sie behauptet, dieses Land sei Staatseigentum - die Beduinen bewirtschaften es aber schon seit Jahrzehnten. Statt einen rechtsstaatlichen Weg über Gerichte zu gehen hat die Regierung dieser Demokratie den Weg der Sachbeschädigung gewählt.
In den Hügeln der südlichen Westbank leben Bauern die dort seit ottomanischer Zeit ihr Familienland bestellen und sich in Höhlen Wohnungen einrichten. Nun ist dieses besetzte Gebiet aber nur dünn besiedelt und Israel möchte es bei einem Friedensvertrag annektieren. Deshalb werden immer mehr Siedlungen gebaut und die Bauern nach bestem Bemühen von Militär und Polizei vertrieben, Wohnhöhlen demoliert, Zisternen zugeschüttet, Viehfutter und Ernte zerstört.

Aufgrund der verstärkten Eskalation der Situation in den letzten Wochen hat sich Agnes inzwischen entschieden, ihren Freiwilligendienst abzubrechen und nach Deutschland zurückzukehren. Einerseits ist ihr die verschärfte Sicherheitssituation durch die häufigen Selbstmordanschläge zu belastend, andererseits ist sie geschockt darüber, was in den letzten Wochen von der israelischen Armee in Palästina angerichtet wird und wie viele Israelis dies radikal unterstützen. - Irgendwie schreibe ich immer genau dann meinen Projektbericht, wenn eine meine Mitbewohnerinnen zurückfährt. So werden Alfred, Johannes und ich jetzt eine dreier Männer-WG bilden.

Jetzt fehlt nur noch etwas zur politischen Lage - dem dauerpräsenten Thema, das auch einen erheblichen Einfluß auf unseren Alltag hat. Dies ist sicher ein großer Unterschied zu einem Aufenthalt in einem anderen Land. Wie würde mich wohl diese Zeit anderswo prägen? Hier informiere ich mich vornehmlich über Nachrichten, die den Nahostkonflikt betreffen, diskutiere fast täglich mit Freunden über damit zusammenhängende Fragen und höre die verschiedenen Meinungen der jüdischen Seite und auch einige von der palästinensischen. Genau aus der intensiven Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt lerne ich aber auch sehr viel. Ich setze mich mit meinem Pazifismus viel stärker auseinander, als ich das vor meiner Kriegsdienstverweigerung getan habe und werde in dieser Überzeugung immer weiter gefestigt - denn dieser Konflikt zeigt nur zu genau, dass Gewalt und Krieg keine Probleme lösen. Ich bin mit Patriotismus, Nationalismus und Militarismus und dem Umgang damit konfrontiert - gerade zum derzeitigen Gedenktag für gefallene Soldaten und Unabhängigkeitstag. Dadurch reflektiere ich solche Themen viel stärker als ich es je gemacht habe.
Man sieht den Unabhängigkeitstag kommen. So viele Fahnen wie in den letzten Tagen habe ich noch nie in meinem Leben gesehen. "Kachol we Lavann" (blau und weiß) überall: größere Fahnen, Girlanden und die Autofahrer überbieten sich mit Fläggchen an ihrem Auto (drei oder vier sind keine Seltenheit, aber noch lange kein Rekord). Von einem guten Freund bekam ich gerade eine Mail, dass letzte Nacht unbekannte Jugendliche solche Fähnchen mit Piratenflaggen ausgetauscht und Flugblätter gegen die Besatzung dazugelegt haben - daraufhin hat heute früh die Polizei eine linke WG gestürmt und auf den Kopf gestellt, nur weil diese eine Piratenfahne an der Tür hat - die falschen Leute wurden erwischt, ein Bewohner wurde aber in Untersuchungshaft genommen. Auch bin ich in den letzten Tagen immer wieder erstaunt, woher die Israelis so viele Polizisten nehmen - zum Unabhängigkeitstag standen schwerbewaffnete, gelangweilte Polizeistreifen an jeder Ecke von größeren Straßen.
Diese Polizeipräsenz zeigt die Verschärfung der Sicherheitssituation seit ich hier angekommen bin. Trotzdem fühle ich mich weiterhin sicher hier in Jerusalem. Als ich vor einem Jahr ankam, war es noch weitaus ruhiger, doch ich fühlte mich unwohler. Sicherlich hat dies unter anderem etwas mit dem Einleben zu tun. Diese Sicherheit ist nicht selbstverständlich, wie ich von anderen Freiwilligen weiß, und es haben schon viele aus diesem und aus politischen Gründen abgebrochen (Es gab Zeiten zu denen über 1000 deutsche Volontäre in Israel gearbeitet haben, letztens habe ich die Zahl 250 als aktuelle Angabe gehört). Ich will jetzt nicht versuchen, das ganze genau zu analysieren, auch wenn ich schon viel darüber nachgedacht habe, doch hoffe ich, dass man sich auch in Deutschland nicht zu große Sorgen um mich macht. Man kann auf alle Fälle hier leben - das Wissen über die Situation der Palästinenser, nur wenige Kilometer von hier entfernt, bedrückt mich weitaus mehr. Ich habe auch schon den Gedanken gehabt, aus politischen Gründen abzubrechen, da ich das Verhalten des Staates, in dem ich lebe, und die Einstellung vieler seiner Bürger nicht mittragen kann. Bisher sind diese Gedanken jedoch aus verschiedenen Gründen nicht weiter gereift. Ich versuche auf alle Fälle mich umfangreich, besonders auch über die israelische Friedensbewegung, zu informieren. Außerdem kann ich euch nur so weiterleiten, wie ich die Situation einschätze und empfinde.
Während vor einem Jahr schon die Berichte aus den besetzten Gebieten schrecklich erschienen - eingeschränkte Reisefreiheit durch Checkpoints und andere Ungerechtigkeiten der Besatzung - ist es einfach unglaublich, was sich die israelische Regierung und die Armee inzwischen erlauben.

Immer wieder lese ich Artikel aus Deutschland, in denen Kritiker der israelischen Politik als Antisemiten angeklagt werden - allen voran betätigen sich da "Die Welt", "Jüdische Allgemeine Wochenzeitung" und der Zentralrat der Juden. Es wird von einer Existenzbedrohung Israels gesprochen und Solidarität mit diesem Land, dass in diesem Konflikt eindeutig der stärkere Partner ist, gefordert. Dabei ist Ablehnung des Vorgehens der Israelis doch noch lange kein Haß gegen Juden und wenn Israel solches Unrecht begeht, dann wird eben diese Kritik provoziert. Nun sagen vielleicht manche, es gehe in anderen Konflikten nicht so weit mit der Kritik, doch Israel sieht sich immerhin als ein Teil der "westlichen" und "entwickelten" Welt.
Wer wirklich hinter Israel steht, sollte ein Ende der Besatzung einfordern und auf dem Weg dorthin muß Israel als der Besatzer und die stärkere Macht mehr Engagement zeigen und weitergehende Eingeständnisse machen. Wenn die Besatzung nicht bald beendet wird und die israelische Siedlungspolitik weitergeht, wird es in Zukunft schier unmöglich, eine Trennung der Staaten durchzuführen. Demographisch gesehen ist jedoch die jüdische Mehrheit in Israel gefährdet, wenn keine Zwei-Staaten-Lösung zustande kommt.
Auch internationale Staaten müssen sich verstärkt einmischen und nicht nur, wenn die USA gerade politisches Interesse daran haben, in der Region Ruhe zu bekommen (wobei sie dabei ja nicht einmal ausgewogen genug vorgehen und so ein Scheitern jedes Mal von neuem vorprogrammiert ist).

Der Terror ist schrecklich, doch muß deshalb nicht Politik unterstützt werden, die nur auf Rache beruht und deren angebliches Ziel, den Terror zu bekämpfen, völlig verfehlt wird. Seit Scharon vor einem Jahr an die Macht kam, hat sich die Sicherheitslage in Israel ständig verschlechtert - obwohl Scharon mit dem Versprechen der Sicherheit angetreten ist und dafür gewählt wurde. Um seine Macht weiter zu erhalten geht dieser Mann über die Leichen seines eigenen Volkes und an einer Zwei-Staaten-Lösung wird hier mittelfristig nichts vorbeifuhren - die Frage ist nur, wieviel Blut bis dahin noch vergossen werden muß. Leider bin ich in dieser Hinsicht im letzten Jahr sehr pessimistisch geworden.

Ich habe einmal ein Zentrum für Gewaltfreiheit in Bethlehem besucht, die hauptsächlich versuchen, im erzieherischen Bereich zu arbeiten. Auch weiß ich von christlich-palästinensischen Projekten, die zur Gewaltfreiheit erziehen wollen, doch wie sollen sie dies tun, wenn jedes palästinensische Kind bereits direkt mit Gewalt konfrontiert war? Wie kann man - wenn der Unterricht erst einmal wieder möglich sein wird - in einer demolierten Schule versuchen pazifistische Ideale zu vermitteln. In dem Bereich wird derzeit die Arbeit vieler Jahre kaputt gemacht - in meinen Augen ist dies keine Terrorbekämpfung. Stattdessen wird die Unterstützung für diesen nur erhöht und die terrorkritischen Stimmen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft werden weniger. Wer kann sich auch anläßlich dieser Gewaltdimension der israelischen Armee noch glaubhaft gegen Gewalt aussprechen.
Die israelische Militäroffensiven werden in keiner Weise dem Terror Einhalt gebieten: Das hat sich im letzten Jahr immer wieder gezeigt. Auch wenn die Terroranschläge gerade mal wieder seltener sind (nicht vollständig verschwunden) wird man die palästinensische Bevölkerung nicht längerfristig unter striktem Hausarrest halten können - mit allen unmenschlichen Begleiterscheinungen (fehlende medizinische Versorgung, Mangel an Nahrungsmitteln und Trinkwasser, ...). Selbst wenn derzeit ein wenig angebliche "Infrastruktur" des Terrors zerstört wird, wird dies dadurch überwogen, dass in Zukunft mehr Palästinenser Anschlägen auf Israel unkritisch gegenüberstehen oder sogar bereit sein werden mangels Perspektiven an solchen grausamen Aktivitäten teilzunehmen. Was Israel macht ist, völlig unmenschlich und destruktiv, was eine Lösung des Problems angeht.
Der Terror kann nur verhindert werden, indem die Palästinenser unter annehmbaren Bedingungen einen Staat und eine Zukunftsperspektive bekommen und so dem Terror der Nährboden entzogen wird.

Von Israelis bekomme ich immer wieder gesagt, man habe den Palästinensern doch schon alles geboten. Jedoch hat Barak es mit Zahlenspielereien sehr gut geschafft, alle darüber hinwegzutäuschen, dass seine Angebote gar nicht so weit gingen. Außerdem müssen in der derzeitigen Situation die früheren Fehler beider Seiten ignoriert werden, um ohne ständiges Beschuldigen und Aufrechnen an einer realistischen Lösung zu arbeiten.
Leider ist die hiesige Presse sehr einseitig und emotional. Wer nicht gerade die recht liberale "Haaretz" liest, bekommt fast nur eine solche Sicht vermittelt. Nach Anschlägen wird immer sehr ausführlich über die Opfer und ihre Familien berichtet und es kommen die erhitzten Gemüter zu Wort. Kritische Stimmen sind da viel seltener. So übersehen viele Israelis das totale Versagen der Scharon Regierung in allen Bereichen.
Vor kurzem erzählte mir einer der beiden arabischen Mitarbeiter an unserer Schule von einer Theatervorstellung, bei der die älteren Schüler waren. Vor diversen Behindertenschulen forderte die Vertreterin der Stadt in ihrer Einleitung, Arafat und dessen Freunde umzubringen, woraufhin einige der anwesenden Schüler klatschend "Araber umbringen" schrien. Unsere Schüler blieben anscheinend ruhig und unsere Direktorin soll anschließend einen Beschwerdebrief geschrieben haben. Dass Munir trotz solcher Vorkommnisse weiter an einer jüdischen Schule arbeitet, ist ein wichtiges Zeichen um Israelis klarzumachen, dass nicht jeder Araber ein potentieller Terrorist ist. Ich hoffe nur, dass sie dies auch als Beispiel der Mehrheit der Palästinenser sehen und nicht für eine Minderheit halten.

Ein paar Lichtblicke gibt es dennoch. So war ich vor kurzem bei den Frauen in Schwarz und statt der zwei Dutzend Personen wie letzten Sommer, waren es immerhin über 100. Auch gibt es in den letzten Monaten immer wieder Aktionen der Friedensbewegung. Während die radikalere Linke immer aktiv war, wird sie jetzt stärker und aktiver und auch die 'Mainstream'-Friedensbewegung, "Peace Now", tritt zunehmend wieder in Aktion. Derzeit sitzen 36 Reservisten im Gefängnis, da sie verweigerten, in den besetzten Gebieten zu dienen und es wird von fast 1000 geredet, die diesem Beispiel folgen würden.
Vor kurzem war ich bei einem Gespräch mit Adam Keller, einem Vertreter von "Gush Shalom". Als Nachfahre von Holocaust-Überlebenden sagte er, es gebe zwei mögliche Lehren, die man aus der Shoah ziehen kann. Die in Israel am meisten vertretene sei, dass den Juden nie wieder Unrecht zustoßen dürfte und sie deshalb der Stärkere sein müßten. Er selber sieht für sich jedoch die Folgerung, dass auch anderen Völkern kein Unrecht zustoßen dürfe. Bei seinen Ausführungen zum Konflikt gab er sehr detaillierte Informationen und strahlte einen in dieser Situation unglaublichen Optimismus aus. Es gibt also Hoffnungen, dass mit weiterem Erstarken der Stimmen für einen Frieden eine Lösung wieder ein Stückchen näher rückt.

Ich wünsche allen alles Gute und hoffe auch von Euch mal wieder was zu hören; ein Wiedersehen ist ja nun auch schon nicht mehr so lange entfernt - wie die Zeit vergeht.

Schalom leculam,

Euer Jonas

PS: Weiterverbreitung, besonders der Abschnitte zum Nahostkonflikt, ist ausdrücklich erwünscht! Bei Abdruck hätte ich gerne ein Belegexemplar.

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