Jonas Lähnemann
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Weihnachtsrundbrief aus Israel (17.12.2001)

Liebe Foerderer, Freunde und Verwandte,


inzwischen sind wieder mehr als drei Monate vergangen seitdem ich mich mit meinem Projektbericht das letzte mal gemeldet habe. Da wiederum der naechste noch etwas Zeit hat will ich das anstehende Weihnachtsfest zum Anlass nehmen ein wenig ueber die vergangenen Wochen zu berichten.

In der Schule bin ich inzwischen groesstenteils in den Alltag einer Klasse eingebunden. Die vier Jungen im Alter von 13 bis 16 Jahren - Nati, Adiel, Moschiko und Michael - werden von der noch jungen Lehrerin Hagar unterrichtet. Ausser mir hilft noch eine russische Mitarbeiterin in der Klasse, sowie natuerlich Physiotherapeuten etc. Adiel ist Autist und hat Muskelschwund. Die andern drei sind mehr oder weniger stark CP-geschaedigt. Nur Moschiko kann etwas sprechen.
Neben den taeglichen Aufgaben wie essen ausgeben oder auch fuettern, sowie aufs Klo bringen und Windeln wechseln, helfe ich in den verschiedenen Unterichtsstunden, teilweise mit der ganzen Klasse oder auch nur mit einzelnen Schuelern. So haben alle gemeinsam Schwimmen (ich helfe beim umziehen), Musik, Kunst, Papierschoepfen und Unterichtsstunden zu Themen wie Natur oder biblische Geschichten. Ausserdem gibt es viel individuelle Arbeit mit Schuelern und mit Moschiko gehe ich zum Beispiel zur Holzbearbeitung (abschleifen und bemalen), mit Adiel zum Toepfern und mit Michael zum Oelmalen. Einige der Arbeitsbereiche bieten schon eine Vorbereitung auf moegliche Arbeiten in Behindertenwerkstaetten; die Schueler bekommen dabei eine kleine Entlohnung mit der sie sich am Schulkiosk - gefuehrt von aelteren Schuelern - etwas kaufen koennen.

Bei der Altenarbeit hat sich inzwischen etwas geaendert. Mit Edmund laeuft es weiter sehr gut. Schmuel zieht bald in ein Altersheim, in dem ich ihn aber wahrscheinlich weiterbesuchen werde. Sein Gesundheitszustand hat sich etwas verschlechtert, da ihm die Beine noch etwas mehr Probleme bereiten.
Hanna ist im Oktober kurz vor ihrem 80ten Geburtstag verstorben - nach einigen Wochen im Krankenhaus, wo ich sie noch besucht hatte. Sie hat immer viel erzaehlt jedoch meist nur aus ihrer fruehen Kindheit, so dass ich gerne mehr ueber ihr Leben gehoert haette.
Danach beuschte ich mehrfach eine andere alte Dame, der es dann aber zu anstrengend war weitere Betreuung zu bekommen, da sie schon recht gut versorgt ist. So ist es bisher noch unklar wie es genau mit diesem Teil meiner Altenarbeit weitergeht.

Nachdem es diesen Herbst hier lange Zeit politisch relativ ruhig war, haben die Israelis vor drei Wochen mit der Ermordung eines Hamas-Fuehrers die Gewaltspirale wieder angestossen. Selbst einige konservative israelische Medien bezeichneten dies als Fehler, da eine Reaktion der palaestinensischen Terrororganisationen nur eine Frage der Zeit war. So folgten dann auch nach einer Woche die schrecklichen Selbstmordattentate in Jerusalem und Haifa. Wir waren geschockt und wer gerade nicht zuhause war rief an. Genauso erkundigten sich diverse Freunde noch mitten in der Nacht nach uns. Erschreckend war aber auch wie radikal einige sonst liberale Bekannte ploetzlich redeten. Ich fuehle mich derzeit nicht ernsthaft unsicher, auch wenn ich wohl etwas vorsichtiger geworden bin und zum Beispiel erstmal nicht unbedingt in die Westbank (wo ich vor allem durch israelische Racheaktionen gefaehrdet waere) fahre. Nach diesen Attentaten hat sich die Gewaltspirale zu einem seit ich hier bin unbekannten Mass hochgedreht. Scharon hat seit seinem Machtantritt stueckweise immer mehr Grenzen ueberschritten. Nach vor einigen Monaten noch vereinzelten Besetzungen des palaestinensischen Autonomiegebietes - damals ein Novum seit Jahren unter grossem internationalen Protest - wird jetzt in Kreisen der Friedensbewegung von einer Situation schlechter als vor den Oslo-Vertraegen gesprochen. Grosse Teile des palaestinensischen Autonomie-Gebietes sind wiederbesetzt, Israel verhaengt Kollektivstrafen durch die Blockade saemtlicher Staedte und Doerfer und zerstoert systematisch die in den letzten Jahren aufgebaute Infrastruktur vom Flughafen in Gaza bis zur Fernsehantenne in Ramallah und nennt diese Rache auch noch Kampf gegen Terror. Bei den Militaeraktionen der Israelis kommen reihenweise Kinder um und regelmaessig auch palaestinensische Sicherheitskraefte - die aber wiederum den Terror bekaempfen sollen. Sicher haette Arafat mehr tun koennen, doch ob die Einschraenkung seiner Bewegungsfreiheit ihn darin unterstuetzt und Israels Militaeraktionen ihm und nicht den Terroristen Rueckendeckung in der Bevoelkerung geben? Scharon scheint es ueberhaupt nicht auf Deeskalation und einen Frieden abgesehen zu haben und er geht dabei auch ueber israelische Leichen, denn eine Sicherheit vor Attentaten wird sein Kurs nie bieten. Dabei wird er aber von vielen Israelis gestuetzt. Und die USA beschweren sich nicht mehr, da sie sich nach den schrecklichen Ereignissen des 11. September auch nicht besser verhalten. Ich bin als pazifistischer Kriegsdienstverweigerer aus Deutschland hierher gekommen und werde durch die Ereignisse in diesem Land und in der Welt in meinen Ansichten bestaerkt, da ich sehe, dass militaerische Handlungen das Leid nur vergroessern. Nicht nur beim Gegner, was von sich aus schon schlimm genug ist, sondern auch auf der eigenen Seite.


Zu den Highlights meiner Freizeit- und Wochenendbeschaeftigungen gehoerten der Besuch einer Bekannten meiner Grosseltern in einem Kibbutz im Norden, ein Wochenende in Eilat, ein Besuch von Jericho, ein Musikfestival in Galilea, viele kleine Wanderungen und Spaziergaenge in der Umgebung von Ein Karem und ein Konzert von Wolf Biermann vor einer Woche. Ausserdem war das 40jaehrige Jubilaeum der Arbeit von Aktion Suehnzeichen Friedensdienste in Israel und wir waren alle in die Vorbereitungen der Festtage eingebunden.

Ende dieser Woche kommt mein Bruder zu Besuch. Wir werden gemeinsam Weihnachten hier verbringen und falls meoglich nach Bethlehem fahren, so dass meine Eltern und Grosseltern zum ersten mal ohne uns beide in Deutschland feiern. Direkt nach Weihnachten wollen wir gemeinsam nach Aegypten fahren.
Fuer das naechste Jahr hoffe ich dann, dass die Situation etwas ruhiger wird - wobei meine Hoffnungen dahingehend leider recht gering sind - und dass mir meine Arbeit und der Aufenthalt in Jerusalem weiter so viel Spass machen wie bisher.


Chag Sameach - Froehliche Feiertage - wuenscht Euch Euer

Jonas.

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